Arbeiter-Autonomie mit kleinem a

DIE ALLGEMEINE AUSBREITUNG DER BEDÜRFNISSE NACH BEFREIUNG SAMMELN

Ein neues Gespenst geht auf den italienischen Straßen um, es ist jenes der AUTONOMIA operaia.[1] Die Zeitungen haben es bereits eingeordnet. Das ist die neue Gruppe. Von jetzt an wird, aus reiner Gewohnheit, das Kürzel in den von der Ansa bereitgestellten Listen der Demonstrationsteilnehmer und in den Anklagen gegen die Unverantwortlichkeit und den Extremismus, die von den Funktionären der gewerkschaftlichen und politischen Kontrolle vorgetragen werden, auftauchen.
Aber die Gruppe Autonomia operaia gibt es nicht. Es gibt einzelne Gruppen, die in der Realität der Kämpfe in der Fabrik, der Schule, des Viertels verankert sind: Jede dieser nennt sich so, wie sie will und wie sie es für richtig hält und nimmt an der „autonomia“ –  jener, das ist wichtig, mit dem kleinen a – teil, in dem Ausmaß, wie sie wirklich in der Bevölkerung verankert ist, wie sie fähig ist – in der Bevölkerung – Agitation zu betreiben, Organisierung und Gegenmacht zu bestimmen.

Nur weil das in neuer und breiter Form seit dem April 1975 stattfindet, nur deshalb hallen heute wieder die Parolen der Viertel und der Fabriken auf den Straßen von Mailand. Vom Mittwoch, 28 Januar (Besetzung der Zugstation von Lambrate durch die Arbeiter am Vormittag und am Nachmittag Demonstration nach S. Vittore, um gegen den versuchten Mord an Genossen im Knast zu protestieren) bis zum Freitag 6. Februar (Generalstreik und Besetzung der Zugstation) gab es ständig autonome Demos. Diese haben gezeigt, wie groß die Kampfbereitschaft der Massen ist, diese haben angefangen jenes Gefühl der Resignation zu vertreiben, das die Bosse und die Gewerkschaften unter den Leuten verbreiten, sie haben von neuem die Kampfkraft der Arbeiter mit der Fähigkeit, dieser einen politischen Ausdruck zu geben, verknüpft.
Daraus ergeben sich einige spezifische Aufgaben für Revolutionäre. Sich innerhalb den Massen organisieren, um den Punkt der politischen Konzentration des existierenden Auflehnungspotential zu bestimmen, bedeutet sich klarzumachen, was die fundamentalen Bedürfnisse des Proletariats heute sind, bedeutet bis ins letzte Detail zu verstehen, was die Kontinuität zwischen der Illegalität der Verhaltensweisen, zu denen die Massen alltäglich gezwungen sind, und die Kreativität der politischen Bedürfnisse, die diese Illegalität ausdrückt, ist.
Deshalb dürfen die Kräfte der autonomia operaia nicht auf die Straße gehen, wie die ganzen außerparlamentarischen Gruppen, um sich zu zählen. Sie müssen auf die Straße gehen – und sie haben es so gemacht und werden es so machen – um Momente der Organisierung und der Gegenmacht zu verursachen, um einen politischen Ausdruck der Revolte, die in den Fabriken, in den Schulen, in den Vierteln lebt, zu geben.
Wie viel in dieser Periode stattgefunden hat, ist deshalb wichtig. In Mailand, in Rom, in Padua, in Genua, in tausend anderen Situationen, erwacht die Straße auf eine neue Weise. Es geht nicht mehr bloß darum die traditionellen Termine der Gruppen zu beachten oder den parlamentarischen Kalender zu verfolgen, um von den Straße Druck auszuüben (wie es die Revisionisten immer gemacht haben), es geht darum die wahre autonomia direkt auf die Straße zu bringen, sie zur Demonstration der Stärke und zum Angriff zu konzentrieren; die wahre autonomia, jene die jeden Tag in den zahllosen Kämpfen gegen den Boss und das Kommando lebt.
In diesem Sinn ist die autonomia operaia tatsächlich ein Organisierungsmodell, und nicht eine neue Splittergruppe, keine neue Kleinstpartei.
Autonomia operaia ist die Fähigkeit die proletarische Auflehnung in Formen der Macht, die gegen den Feind losschlagen, zu sammeln und zu konzentrieren.
Die Revisionisten auf den Demonstrationen nicht reden zu lassen, Momente der politischen Zusammenkunft gegen den Terrorismus des Staates zu bestimmen, den Arbeitern die Möglichkeit, direkt ihre Interessen auszudrücken, zu geben: das sind einige der unmittelbar bevorstehenden Aufgaben.
Aber das reicht nicht. Heute ist es notwendig, dass das Verhältnis zwischen allen Kräften der autonomia der Arbeiter und Proletarier Stück für Stück von unten, im Rahmen der Praxis der direkten Aktion, in einem organisatorischen Prozess aufgebaut wird. Wir wissen nicht, was die schlussendliche organisatorische Form dieses Prozess sein wird: Wir wissen aber das, was es sicher nicht sein wird, und das ist die Wiederholung irgendeines leninistischen Modells (dass schließlich Lenin das gesagt hätte, was die zeitgenössische Leninisten sagen, ist überaus zweifelhaft), die anstrengende und alberne Wiederholung der gemachten Fehler.
Wir wissen außerdem, dass der organisatorische Prozess einige der wichtigsten Eroberungen des Proletariats heute bewahren muss: und das heißt seine Fähigkeit in sich die allgemeine Verbreitung der Bedürfnisse nach Befreiung, die sich im Rahmen des antikapitalistischen Kampfes entwickelt haben, zu versammeln. In dieser Neuheit, in dieser Kreativität muss das Projekt der autonomia operaia, der Gruppen, die sich innerhalb dieser konstituieren, entwickelt werden.
Die Demonstrationen dieser Tage haben nicht eine neue Splittergruppe aus der Taufe gehoben, sie haben vielmehr gezeigt wie ein Prozess einer neuen Organisierung, an den neuen Bedürfnisse der Massen angepasst, sich in Bewegung gesetzt hat.

(Aus Rosso n. 6 nuova serie, 14. Februar 1976)

[1] Autonomia operaia meint so viel wie Autonomie der Arbeiter*innen (Anm. d. Ü.)

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