Wir sind schuldig Kommunisten zu sein… (Prozesserklärung)

Wir sind schuldig Kommunisten zu sein, schuldig, dass wir uns öffentlich zu unseren Ideen bekannt haben, schuldig, dass wir zur Bewegung ’77 gehören, schuldig, dass wir keinen historischen Kompromiss akzeptieren.
Wir stellen fest, dass die gegen uns geführten Ermittlungen den Charakter einer Inquisition gegen die Bewegung haben. Es handelt sich um eine juristische Ungeheuerlichkeit, die aus einer politischen Ungeheuerlichkeit hervorgegangen ist, d.h. sie entstand aus dem Versuch, “Täter” zu finden, denen man die schwere Schuld zuschreiben kann, den herrschenden sozialen Frieden in der “demokratischsten Stadt der Welt” gestört zu haben; es wurde versucht die Geschehnisse in den Augen der Volksmassen zu diskreditieren und ihren politisches Charakter, der auf die prekären materiellen Verhältnisse der marginalisierten und unterbeschäftigten Schichten aufbaute, zu einem Komplott, eingefädelt von Kräften, die mit der Stadt, ja mit der ganzen Nation nichts zu haben, zu verdrehen.

Wir dürfen als Teil dieses Versuches nicht die Hetzkampagne, der wir durch die Zeitungen ausgesetzt waren, vergessen – an vorderster Front haben wir dabei die Zeitungen der PCI, L’Unità, Giorni Vie Nuove, La Società beobachten können.  Mit der Verschwörungstheorie wurde versucht, die Existenz einer kämpferischen Bewegung in der Stadt, wo die Anwendung der Methode der partizipativen politischen Führung, verstärkt durch die programmatische Übereinkunft, am weitesten fortgeschritten ist, zu negieren.
(…) Unsere Bewegung wurde brutal unterdrückt, weil sie sich weigerte, sich zu integrieren, weil sie sich als einen alternativen Bezugspunkt setzte, und weil unsere Praxis der direkten Demokratie mit den neuen Techniken der Kontrolle kollidierte, die mit den sogenannten Formen der dezentralisierten Demokratie, die nichts anderes sind als leere Ratifizierungsinstitutionen der Entscheidungen der Zentralgewalt, eingeführt wurden.
Die nach dem März einsetzende Repression konnte die Bewegung nicht brechen; im Gegenteil, Hunderte von Durchsuchungen, die Auslandsreisen des Ermittler haben zu nichts anderem geführt als zu einer Empörung in der internationalen demokratischen Öffentlichkeit. In den Septembertagen konnte man beobachten wie die Jagd auf das Andere durch Bereitschaft und Offenheit ersetzt wurde, und zwar von genau den Stadtpersönlichkeiten, die ansonsten die Militäraktion unterstützt hatten, weil die Täuschung ins Wanken geriet und die Verschwörungstheorie niemand mehr überzeugte.
(…) Was getroffen werden musste, ist das, was wir repräsentieren, unser sehr schwerwiegender Fehler ist, dass wir für die autoriduzioni, die Besetzungen der Fakultäten der Universitäten, für den Protest gegen die Stadtverwaltung verantwortlich gemacht werden; wir stellen fest, dass das, was Sie auf rechtlicher Ebene einführen wollen, nichts anderes ist als „Vergeltung“.
(…) Von den größten italienischen Städten bis hin zu den kleinsten Provinzstädten, überall bildeten sich Zirkel und Kollektive junger Menschen, völlig selbstverwaltet und autonom, nicht nur von den Jugendorganisationen der traditionellen linken Parteien, sondern auch von den Organisationen der Neuen Linken.
In diesen neuen organisatorischen Strukturen waren bereits die Keime dessen, was Monate später die Bewegung werden sollte, präsent. In der Sphäre der Linken nahm der Übergang von einer Phase zur einer anderen Gestalt an.
Die individuellen Gewissheiten fielen plötzlich weg, die Weigerung, Politik auf traditionelle Weise zu machen, kam zum Ausdruck. Wir haben die menschlichen, materiellen und kulturellen Bedürfnisse in den Mittelpunkt unseres Handelns gestellt, wir haben nach neuen Formen der Agitation und des Ausdrucks unserer Ideen gesucht. Die Militanz vieler von uns, für Jahre unter dem Banner des entfesselten Aktivismus durchgeführt , erwies sich als kaum menschlich für unsere sozialen und vertrauten Beziehungen, als völlig innerhalb einer heroischen Vorstellung des „Genossen“ und machte dem explosiven Auftauchen unserer Verschiedenheiten Platz und zwar in einem solchen Ausmaß, dass die Widersprüche zu treibenden Kräften des Wachstum der Bewegung und seiner Einheit und das Bewusstsein der Unterschiedlichkeiten Element der individuellen Stärke und nicht der Schwäche wurden
Die alte Hypothese von der Partei, von der Gruppe, als Synthese des Ganzen, die nichts anderes als die Nivellierung der Individualität bewirkt, wurde von Tausenden von jungen Proletariern und Studenten aufgegeben.
In diesem evolutionären Prozess gab es wenig Ideologisches, alles war die Folge einer Veränderung der materiellen und alltäglichen Bedingungen der Massen, vor allem aber des Jugendproletariats. Das Wesen unserer Bewegung besteht gerade darin, den Ausdruck jeglicher Vielfalt zu garantieren; Sie wurde nämlich nicht als Vorstufe “einer Gesellschaft, in der alle gleich sind, aber manche sind es mehr als andere“ konzipiert.
Natürlich gab es auch in Bologna, da es sich nicht von anderen Städten unterschied, verschiedene Kollektive und Zirkeln, darunter das Kollektiv Jacquerie und der Zirkel von S. Donato, die als Orte des Zusammenkommens, der Begegnung und Kampf für viele junge Menschen dienten und ihnen oft half der Marginalisierung und Einsamkeit zu entkommen, die von einer Gesellschaft, die denjenigen, die nach neuen Werten des Lebens, der Solidarität und der Liebe suchen, nichts gibt, auferlegt wurden
Die Jacquerie, die neuen Zirkeln, Radio Alice, wurden schnell zu den Bezugspunkten für alle, die nie eine Rolle gespielt hatten, für alle, die nie nach ihrer Meinung gefragt worden waren, für alle, die jahrelang gezwungen waren, am Rande der demokratischsten Stadt der Welt zu leben, ausgeschlossen von ihrem Luxus und Konsum. Kein Wunder also, dass viele der Forderungen dieser Basisorganisationen die soziale und kulturelle Marginalisierung – Folge einer auf Ausbeutung basierenden, von konsumeristischen und selektiven Werten geprägten Gesellschaft – in Frage gestellt hatten, oft in emblematischen Kampfformen wie der „autoriduzione“.
(…) ’77 war für zwei Generationen der Treffpunkt, alte Militante von ’68 und jungen Leute von ’77 haben gerade durch Ironie, Kontraste, Unterschiede, eine neue kollektive Vision, die trotz der jüngsten Ereignisse nur schwer zu zerstören ist, entwickelt. Es ist schwierig für jede Macht, zu zerstören und/oder die Menschen vergessen zu lassen, was die Schule des Lebens lehrt.
(…) aber im Gegenteil, eines der grundlegenden Merkmale der neuen Bewegung war es, sie abzulehnen und ein spätleninistisches Konzept der Machtergreifung als Eroberung des Staates zu begraben. Wir waren nicht interessiert und wir sind nicht mehr daran interessiert, über Macht zu sprechen, wenn sie nicht mit unseren Bedürfnissen, mit unserer Befreiung, der individuellen wie kollektiven, verbunden ist.
(…) die Entstehung unserer Bewegung markiert das Ende jeder Hypothese der Übergangsphase, im Verfall des Kapitalismus erkennen wir die Bedingungen für eine wirkliche Befreiung des Menschen von Produktion und Arbeitszeit.
(…) Wir setzten an die Stelle der Gewissheiten und Wahrheiten die Bedingungen unserer Existenz, wir verschafften den Marxismus neue Füße, indem wir unsere Realität in ständiger Fortsetzung/Weiterentwicklung interpretierten, sie sogar in ihren allgemeinsten Aspekten verändert, da wir uns zunächst selbst veränderten.

(Auszüge aus einer Prozesserklärung anlässlich eines Prozesses wegen der Ereignisse im März `77, Bologna am 11. April 1978)

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