Anregungen vom bolognesischen ´77
Am Vorabend des 40-jährigen Jahrestages der Ereignisse im März 1977, haben wir einige Aktivist*innen der bolognesischen Autonomia Operaia getroffen. Bei ein paar Getränken erzählten Lucia, Giorgio und Valerio, wie es war, diese Jahre zu erleben, welche unsteten Lebensformen die Stadt – Lehnsgut des PCI – belebten und was vor, während und nach `77 in Bologna passierte. Das sind einige Auszüge aus dem Gespräch.
Zu den Lebensformen
L: Das kollektive Leben war jederzeit und in Situationen verschiedener Art, beim Rumhängen, in freundschaftliche Beziehungen, beim Studium oder in der Politik beispielsweise präsent. Du warst nie allein. Du gingst an Orte, wo du x Personen – nicht bloß eine oder zwei – kanntest, mit denen du etwas gemeinsam hattest. Das ist heutzutage schwer zu verstehen. Es hatte immer eine vielfältige, gemeinsame Dimension. Das fand auf allen Ebenen statt, gerade auch in den Vierteln.
Ich kann die Erfahrung in San Ruffillo (Viertel im Südosten von Bologna, Anm. d. Ü.), wo sich das ehemalige Zollamt befand, als Beispiel nennen. Auch wenn ich nicht von dort war, besuchte ich es. Man traf sich dort und organsierte Dinge, sei das eigene Leben, sei es etwas im engeren Sinne Politisches. All das verschränkte und ergoss sich auf den Platz, wo es sich noch einmal vervielfältigte. Im Vergleich zum Leben vorher, mit den ganzen Regeln, die alle befolgten, war die Kollektivität Balsam für die Seele.
G: Was meine persönliche Erfahrung betrifft, so würde ich diese im Großen und Ganzen in drei Abschnitte unterteilen. Der erste Abschnitt geht von ´70 bis ´74, als die Bewegung eine Bewegung von Aktivisten war. Man traf sich, man versammelte sich in den Räumen der Organisationen oder den Orten, an denen man politisch intervenierte. Dort lernte man die Genossen kennen, man lebte, man begann gemeinsam ins Kino zu gehen, man gab sich gegenseitig Tipps, wo man am besten die Abende verbringen kann. So entstanden die ersten Treffpunkte. Dann zwischen ´74 und ´76 zog sich die Bewegung zurück, sie verschwand mehr oder weniger. Das war für mich ein einschneidender Moment, weil ich die Oberschule abgeschlossen hatte und mich an der Universität wiederfand; dort sah ich, dass dort nicht dasselbe Chaos wie an der Oberschule herrschte: Man ging hin, man studierte. Gleichzeitig nahmen die Möglichkeiten, sich von Aktivisten zu umgeben immer weiter ab, da die verschiedenen außerparlamentarischen Gruppen, eine nach der anderen, in die Krise gerieten, weshalb wir viel weniger wurden. Das war die Zeit, in der wir die Räume in der Via San Giorgio bezogen. Dann, plötzlich, am 22. Januar 1977 kam die Bewegung zurück: Es ging um eine äußerst banale Angelegenheit: die Gesetze zur Schule. Es begannen die Besetzungen der Universität. Diese blieb über Monate, ja Jahre, ununterbrochen besetzt.
Die Bewegung wurde von Monat zu Monat immer stärker. Die Kräfteverhältnisse in der Stadt gerieten immer stärker aus dem Gleichgewicht, während die von der Bewegung kontrollierten Gebiete von einer Bar und zwei oder drei Orten, an denen sich die Räume der Organisationen befanden, zu Straßen, ganzen Vierteln, von Genossen bewohnten Häusern, sozialen Zentren und dem gesamten Universitätsviertel wurden. Die roten Basen wuchsen, bis sie einen kritischen Punkt erreichten, nämlich als Radio Alice herauskam, das all diese Dinge zusammenbrachte. Man hatte das Gefühl, dass die Sache wirklich funktionieren könnte.
L: Eine echte territoriale Gegenmacht
G: Die Stadt gehörte dir: Du hast angefangen, ohne zu bezahlen zu essen und ins Kino zu gehen. Kontrolle des Gebiets.
V: Mir gefällt es sehr über die Kontinuität, was Bologna angeht, zu sprechen. In anderen Städten hat die autonomia eine andere Entstehungsgeschichte, jene in Bologna hingegen ist recht besonders, auch weil Bologna keine große Stadt ist. Also, als sich nach der Tagung von Rosolina im April 1973 die Gruppe Potere Operaio, die an einem gewissen Punkt durch die Vorschläge von Scalzone und von Piperno darüber nachgedacht hatte, eine Partei zu werden, die Partei des Aufstands eben, sich auflöste, ging der bolognesische Ableger von Potere Operaio (der sich im Wesentlichen auf Toni Negri, den Flügel aus Padua, bezog) zu den ersten autonomen Erfahrungen über.
Ich erinnere mich, dass wir bereits im Oktober ’73 die ersten Kontakte mit den autonomen Genossen in Mailand knüpften. Die autonomia wurde bereits mit dem Gatto Selvaggio[1] und den autonomen Studierendenkomitees geboren. Im Winter zwischen ’73 und ’74 gab es in Bologna bereits die ersten vagen Anzeichen der Autonomia Operaia Organizzata. Als wir noch sehr jung waren – ich war 18-19 Jahre alt – war die Frage der Arbeitsverweigerung innerhalb Potere Operaio ein zentraler Punkt, denn Potere Operaio war letztendlich aus dem ersten italienischen Operaismus entstanden (wo die Arbeitsverweigerung im Allgemeinen entstand). In Potere Operaio waren die Parole „36 Stunden gearbeitet – 40 bezahlt“ und die Arbeitsverweigerung, verstanden als Ablehnung der kapitalistischen Produktionsweise, nicht nur ein Slogan oder eine theoretische Aussage: Sie waren eine Lebenspraxis.
G: „Lieber sterben als arbeiten“
V: Was ändert sich an den Lebensformen? Dass wir in Potere Operaio Militante einer Partei waren, ernsthafte Militante, Studium von politischer Theorie einerseits, Kämpfe andererseits. Unvergessliche Straßenschlachten mit der Polizei mit einer Ausrüstung, die ich hier nicht beschreiben kann, weil es zu lang wäre. Einige begannen bereits kleine Gesetzesübertretungen zu begehen (die nie zugegeben wurden, weil das innerhalb der Organisation zum Problem hätte werden können), aber was sich dann änderte war, dass, ausgehend von Fragen der Ablehnung von Arbeit und von jenen der Lebensformen, die Lebensform der Massenillegalität aufkam. Von da an, bis ’79-’80, lebten wir in kollektiver Illegalität.
G: Dies führt zu einer Diskussion über den Unterschied zwischen Legalität und Legitimität. Das heißt: Was legal ist, wird von den herrschenden Institutionen bestimmt, aber was legitim ist, wird durch Machtverhältnisse bestimmt. Wenn wir Andreotti mit Tomaten bewarfen, passierte uns nichts, wenn einer von euch Renzi ausbuht, wird er am nächsten Tag zu Hause abgeholt.
V: Die Leute haben ihre Rechnungen selbst reduziert oder eine Möglichkeit gefunden, den Zähler zu blockieren.
L: Ich habe eineinhalb Jahre lang von Wertmarken gelebt.
V: Was meine eigene Erfahrung betrifft, die vielleicht paradigmatisch für das damalige Leben ist, so habe ich mich ’73 an der Universität eingeschrieben, und da ich aus einer recht armen Familie stamme, hatte ich Anspruch auf eine Studienbeihilfe: 750.000 Lire pro Jahr. ’75 kaufte ich einen wunderschönen R4 in „Gänseschnabelgelb“. Das Problem war, wie man dieses verdammte Auto instand und sich über Wasser hält, während man autonome Militanz betreibt und den Renault R4 fährt. Dies war Aufgabe der illegalen Praxis, die sich oft auf technisches Arbeiterwissen stützte, wie z. B. das Blockieren eines Zählers, die Entnahme von Wertmarken, ohne den Münzbehälter zu zerschlagen (sodass sie ihn dir anschließend wieder auffüllten), das Fälschen von Kfz-Steuermarken oder von Bahnfahrkarten. Ich habe das Auto fünf Jahre lang behalten und die Kfz-Steuer nicht bezahlt. Die Reifen und das Benzin hat man von anderen Autos oder von der Tankstelle gestohlen.
G: Zwischen 1976 und 1978 lebte die sogenannte diffuse Autonomie, also diejenigen, die sich im Umfeld der Bewegung befanden oder in der Bewegung waren, in der Illegalität, ohne sich dessen voll bewusst zu sein. Marihuana in der Stadt zu rauchen oder in einem besetzten Haus zu wohnen war nicht gerade legal, Busfahren ohne Fahrschein war es auch nicht gerade… aber so lebten die meisten.
L: Das Schöne war, dass man überall hinfahren konnte, ohne zu bezahlen. Autostopp, den Zug nicht bezahlen. Bis ’77 war der Bus in Bologna für Studenten kostenlos. Dann sollte er 50 Lire kosten, und zu diesem Zeitpunkt wurden die Ticket-Automaten alle sabotiert; am Ende hat man sowieso nicht bezahlt.
G: Für viele Genossinnen und Genossen waren diese Dinge jetzt normal. Es tut mir leid, und es ist traurig, dass sich viele nicht mehr daran erinnern, denn es war das Resultat einer Stärke, die man hatte.
L: Das war auch in der Schule der Fall. Vor allem in den technischen Schulen war das Kräfteverhältnis so, dass man nicht in eine Art internen Streik treten musste, um sich durchzusetzen. Wenn etwas nicht gepasst hat, ging das Kollektiv zum Lehrer und sprach mit ihm. Wir haben im Unterricht geraucht, die Lehrer nicht. Natürlich gab es die organisierten Zusammenhänge, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Wenn der Schuldirektor ein Arschloch war, wurde sein Auto in die Luft gejagt, und dann war wieder Ruhe.
V: Ja, man hatte Lust darauf. Es gingen viele solcher Dinge in Flammen auf. Auch bei uns am Kunstinstitut – da gab es eine Vertretungslehrerin, die uns auf die Eier ging. Sofort das Auto, das war die erste Sache. Ein Kanister Benzin und los ging’s, und zwar ordentlich. Sie ging halt allen auf die Nerven.
L: Es war nicht nötig, Erklärungen oder Bekennerschreiben abzugeben. Das, was passiert war, erklärte sich von selbst.
V: In der Oberschule gab es wirklich besondere Bedingungen. Die Kräfteverhältnisse waren so, dass in der ersten Stunde niemand auftauchte. So früh aufstehen? Du hast sie nicht mehr alle. Vor 10 Uhr war niemand da.
G: Ich hatte in der vierten Klasse Oberschule eine Stunde Matheunterricht.
V: Die Pause dauerte so lange, wie man wollte Die Kräfteverhältnisse erlaubten es auch, Noten durchzusetzen. Es ist nicht so, dass sie es gewagt hätten, jemand durchfallen zu lassen. Eine Note von mindestens 6 war garantiert.[2] Das Argument lautet: Entweder gibst du mir die politische 6 oder dein Auto oder vielleicht sogar deine Kniescheiben müssen dran glauben.
L: Als ich von zu Hause wegging, habe ich die ersten zwei Wochen beim Aldini-Kollektiv geschlafen, das nicht meine Schule war. Das war das Netzwerk, es war nicht so, dass die Genossen mir einen Gefallen getan hätten. Es hatte alles eine andere Dimension.
G: Die Aldini war das Flaggschiff des PCI. Eine Schule, gebaut wie eine Fabrik.
V: Außergewöhnlich waren auch die Lebensformen in den Schulen, insbesondere in den technischen Instituten, die in Bologna den Großteil der Bewegung ausmachten, als sie besetzt waren. An der Aldini gab es Söhne von Arbeitern, die in die Fußstapfen ihrer Väter treten sollten. Man machte sein eigenes Ding und neben alternativen kulturellen Aktivitäten stand die Lebensfreude im Vordergrund, die Lust, unterhaltsame Dinge zu machen. In dieser Schule, die, weil sie eine Fabrik war, über Lastenaufzüge statt über Fahrstühle verfügte, bestand der größte Spaß darin, mit einem 500er in den obersten Stock zu fahren und durch die Gänge zu rasen. Die Genossen der Aldini verblüfften uns sehr oft. Wir gingen hin und sahen uns die Rennen auf den Fluren und in den Klassenzimmern an… Tische wurden umgeworfen, Stühle in die Luft geworfen… Ich hatte viel Spaß. Die PCI war sauer, dass wir ihr Flaggschiff so behandelten.
Die Ansteckung, der Virus ist eine gute Darstellung der Ausbreitung von Autonomie und Revolution, denn es gab wenig Ideologie und viel Sinn für das Praktische, für das alltägliche Leben, für das Materielle.
G: Als ich 14 Jahre alt war, kam ich zum ersten Mal mit der Revolution in Berührung, und zwar über die Unione dei Comunisti Marxisti Leninisti, die “servire il popolo”. veröffentlichte. Die Artikel handelten davon, wie gut es den Arbeitern in China geht. Wirklich verrückte Sachen, die ich las und mir sagte: “Das ist geil”. Es gab eine Ideologie, aber in „Rosso“ begann die Kritik an dieser Ideologie. Die Autonomie wurde allmählich zu einer Kritik.
V: Das Charakteristische am autonomen Leben ist, dass es wirklich auf das Hier und Jetzt, auf unmittelbare Veränderungen bezogen war. Wir selbst waren die Revolution in dem Moment, als wir uns durch unsere Militanz verwandelten. Die Veränderung, das Hier und Jetzt, war folgendes: Der autonome Militante war die Revolution selbst, jetzt, sofort, während er sie machte. Es gab auch einen umfassenden Diskurs, aber wir konzentrierten uns auf die materiellen Lebensverhältnisse, weniger auf die theoretische Diskussion. Klar, wir haben auch viel gelesen, aber wir redeten nicht ständig darüber.
L: Es gab kaum einen Bedarf an Planung. Damals haben wir versucht, gut zu leben, ohne Asche auf dem Kopf oder Kichererbsen unter den Füßen.
V: Das ist ein Argument, das einem zum Lachen bringt, wenn man das will, aber es hat eine sehr wichtige Grundlage und einen politischen Wert: Den Luxus sich aneignen wollen
G: Die Ideologie des PCI war die des Opfers. Im besten Fall jene der Würde des Arbeiters durch die Arbeit. Der Arbeiter ist besser als der Boss, weil er arbeitet, was für ein Unsinn.
V: Wir dachten, dass die maximale Entwicklung der Produktivkräfte uns die Möglichkeit geben würde, ohne Arbeit zu leben. Wir haben das, was bereits politische Theorie war, auch von Potere Operaio, auf die Praxis übertragen. Das bedeutete, dass man, wenn man in einen Supermarkt ging, um kostenlos einzukaufen, mit einer durchmischten Zusammensetzung hinging: Autonome, Lotta Continua, Außenseiter. Ein aufmerksamer Beobachter konnte zwischen Autonomen und Militante von Lotta Continua unterscheiden. Diejenigen von Lotta Continua nahmen das Nötigste mit, wir nahmen Kaviar, die feinsten französischen Käsesorten, Whiskey, Champagner. Mit all diesen Sachen gingen wir in unsere Räume und feierten ein Fest, ein sehr großes Fest. Dasselbe gilt für die Modegeschäfte: Alles wurde mitgenommen und verteilt. Böse, ständig verärgerte Autonome, die dieses illegale Leben führten. Als ob! Wir hatten eine großartige Zeit. Wovon reden sie? Unser Slogan lautete „hart, aber mit Freude“. Es wurde immer gefeiert. Wenn man in Bologna spazieren ging, konnte man die Studentenwohnungen sofort erkennen, weil das Licht in den Fenstern oft blinkte und ein enormes Chaos herrschte. Die Qualität des sozialen Beziehungen war so groß, dass man, ohne jemanden zu kennen, einfach ins Haus und hinaufging. Man hat seine Sachen herausgeholt, etwas angeboten, etwas genommen, man hat sich kennengelernt.
G: Was die so genannten Autonomen vom Rest der Welt unterscheidet, ist Radikalität. Ein gewisses Bewusstsein dafür, dass Legalität und Legitimität unterschiedliche Dinge sind. Radikales Denken, das sich völlig gegen den gegenwärtigen Zustand richtet. Die Ablehnung der Sichtweise, dass durch die Verbesserung der Beziehungen zum Feind, indem man mit ihm diskutiert, Verbesserungen erreicht werden können. Eine Perspektive, die meiner Meinung nach verloren gegangen ist, sobald die Erfahrung der Bewegung und der Autonomie beendet waren. Die radikale Sicht des sozialen Konflikts: auf der einen Seite wir, auf der anderen der Feind. Die Dinge erhalten einen bestimmten Wert, je nachdem wie sie sich in Bezug auf diesen Konflikt darstellen. Die Radikalität dessen, was wir für unser Leben wollen. Die Idee, dass man die Jahre, die man zur Verfügung hat, nicht an das Universum der Arbeit verschenken will.
V: Um einen Schlussstrich unter das Thema zu ziehen, können wir in wenigen Worten zusammenfassen: Unsere Art der Militanz war eine, die nichts von den sozialen Beziehungen wegnahm. Wir haben die Dinge, die wir taten, nie als Opfer interpretiert, sondern immer als das Glück, sie zu tun. Unsere war eine schöne, eine glückliche, ein lustige Militanz. Das Martyrium wurde völlig abgelehnt. Wir hatten eine Menge Spaß. Es ist nicht so, dass alles rosig war. Wir haben nicht immer nur ausgeteilt. Schön wär’s! Manchmal haben wir auch kassiert. Im Gegensatz zu heute, wo man nur kassiert und nie austeilt. Auf der Straße haben wir entschieden, ob wir kämpfen wollten oder nicht.
Die Polizisten hatten Angst, weil sie wussten, dass 7, 8 oder 10 von ihnen am Boden liegen blieben, wenn sie angreifen würden. Das war eine Tatsache. Aber nicht bloß mit leichten, sondern mit schweren Verletzungen.
G: Vor allem wussten sie, dass es nicht bei einem Angriff bleiben würde, sondern dass sie jeden Tag angreifen müssten, bis sie müde geworden wären.
V: Wenn wir andererseits politisch entschieden, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund einer bestimmten Strategie notwendig war zu kämpfen, griffen wir direkt und plötzlich an. Wir sind ihnen nicht zu nahe gekommen, wie man es jetzt mit den Schilden tut… Schieb-Schieb. Das ist ein Fehler, den wir nicht gemacht haben, Nahkampf ist Quatsch.
L: Alles war organisiert, vor allem im Rahmen der großen Demonstrationen. Autos wurden gestohlen und mit Molotowcocktails, die in der Nacht zuvor hergestellt worden waren, gefüllt.
G: Bei den Zusammenstößen mit der Polizei, an denen ich beteiligt war, habe ich nie einen Polizisten aus der Nähe gesehen.
L: Bei den Demonstrationen der Frauen war das Kräfteverhältnis anders. Ich wurde zweimal verprügelt: einmal von einem Polizisten auf einer feministischen Demonstration. Sie schlugen den Frauen mit Schlagstöcken nur in den Bauch und ins Gesicht. Das andere Mal habe ich von der FGCI[3] auf einer Schüler-Demonstration was abbekommen.
G: Die keine Polizisten waren… zumindest keine echten
L: Bei organisierten Demonstrationen wurde ich vom Ordnungsdienst geschützt. Ich habe nie ein Gemetzel erlebt. Man war unbesorgt, auch wenn man kleiner war.
V: Apropos Lebensformen: Es gab auch neue Formen der Fortbewegung. Auch in diesem Fall verließ man sich auf die Illegalität, die mehr oder weniger eine der Massen war. Wenn man es eilig hatte oder keine Busse fuhren, nahm man ein Auto, aber ohne es zu ruinieren.
Man öffnete es, fuhr dorthin, wo man hin musste, stellte es dann an einem normalen Ort ab und schloss die Tür. Der Besitzer musste Anzeige erstatten, aber fand es wieder. Es diente der Fortbewegung, nicht dem Diebstahl. Das Auto war ein kollektives Fortbewegungsmittel.
L: Es gab auch eine besondere Offenheit beim Zusammentreffen mit Genossen außerhalb von Bologna. Obwohl ich ein junges Mädchen war, habe ich den Zug nach Mailand nicht bezahlt. Ich wusste wenig über Mailand, aber man fand immer einen Genossen, der einem sagte, wohin man gehen und wo man schlafen konnte. Man setzte das als selbstverständlich voraus genauso wie das gemeinsam gestaltete Leben.
Zum Feminismus
L: In diesen Jahren wurde die vor ’77 begonnen Arbeit von den Genossinnen auf großartige Weise fortgesetzt. Vor allem in den Beziehungen innerhalb der Familie, zu den Vätern und Brüdern, aber auch zu den eigenen Genossen (die größere Mistkerle waren als später bekannt werden sollte). Wir hatten einen doppelten Kampf zu führen: den der Militanten und den der Feministin. Die Realität sah so aus, dass die Genossen sich in der Öffentlichkeit, vielleicht aufgrund der Kräfteverhältnisse, ängstlich zurückhielten. Im Privaten kam jedoch einiges von der chauvinistischen Verirrung zum Vorschein.
Viele feministische Genossinnen erlebten also in ihrem Privatleben ambivalente Situationen.
G: Darf ich kurz etwas sagen? Meine Beziehung zum Feminismus war davon geprägt, dass eine Feministin, mit der ich zusammen war, sagte: “Alle Männer sind Bastarde, außer Giorgio”.
Ich habe mich immer gefragt (an Valerio gerichtet): Was zum Teufel habt ihr denn gemacht?
L: Es gab viele Ambivalenzen, die dann zum Vorschein kamen. Um es kurz zu sagen: Über die “Grundlagen” haben wir unsere Genossen im Allgemeinen aufgeklärt. Der Abgrund zwischen den Geschlechtern wurde durch diesen Kampf jedoch nicht überwunden. Da war das Thema des „Leaderismus“, die Verkörperung des Männlichen schlechthin, das mich sehr aufgeregt hat. Ich habe bestimmte Machtattitüden à la „Ich bin das Wort“ nicht ertragen können, ob sie nun scherzhaft oder ernst gemeint waren. So viel Arbeit auch immer geleistet wurde, es war hart und wir gelangten nur bis zu einen bestimmten Punkt. Ich muss sagen, das Tolle am dem zeitgenössischen antagonistischen Spektrum ist, dass ich jetzt ein viel ausgewogeneres Geschlechterverhältnis bei den Genossen erkenne. Das lässt mich hoffen, dass nicht alles umsonst war. Früher gab es keine Demonstrationen, bei denen Frauen im Ordnungsdienst oder in der ersten Reihe waren. Jetzt gibt es sie, und die Anwesenheit ist nicht ein Feigenblatt, sondern praktisch.
Danach
L: Am auffälligsten war danach die Einsamkeit. Nach ’81 ging ich, abgesehen von meiner politischen Tätigkeit, die sich in anderen Bereichen fortsetzte, zur Piazza Verdi und hielt dort inne. Es war für mich unbegreiflich, dass sich diese ganze kollektive Dimension, die bis vor kurzem noch Alltag war, aufgelöst hatte.
Es war eine andere Art zu leben, die schließlich bis ins Innerste der Stadt vorgedrungen war, sie war zur Selbstverständlichkeit geworden. Jenseits des Antagonismus, des Verfolgens eines revolutionären politischen Projekts, ich fand diese kollektive Lebensweise (und auch die Vertrautheit mit sich selbst) nie mehr wieder.
V: Es verändert den Alltag, denn ab einem bestimmten Punkt verliert die Bewegung an Schwung. Nach der Konferenz vom September ’77, dem Schwanengesang, ist der Tiefpunkt der Bewegung nach den vorausgegangenen Niederlagen der Arbeiter erreicht. Dies führt zu einem Zusammenbruch der antagonistischen Gemeinschaft im Allgemeinen, die sich aus den Gruppen und dem großen Spektrum der organisierten oder diffusen Autonomie zusammensetzte, insbesondere nach dem erfolgreichen Vorstoß des PCI gegen die Bewegung mithilfe Calogero und seinem Theorem. Mit Ausnahme einiger Widerstandsnester ging es nach dem Ende der Zeitschrift Rosso – weil wir praktisch alle im Gefängnis gelandet sind – mit dem Magazzino und dann mit anderen kleinen Erfahrungen weiter, aber im Wesentlichen hat sich dieser Bereich aufgelöst. In den 1980er Jahren saßen die meisten der aktivsten autonomen Genossinnen und Genossen des organisierten Spektrums im Gefängnis. Es gibt eine Veränderung: Es gibt nicht nur keinen Stil der Militanz mehr, sondern es gibt überhaupt keine Militanz mehr, weil wir im Gefängnis oder auf der Flucht waren. Wir sprechen hier von Tausenden von Geflüchteten; es gab täglich Verhaftungen, Dutzende und Aberdutzende pro Tag in ganz Italien. Das hat bei den Genossinnen und Genossen, wohl mehr oder weniger als Nebeneffekt, zum jener spektrenübergreifenden Militanz geführt.
All dies hat leider – und ich sage das mit großem Respekt und viel Trauer – dazu geführt, dass wir so viele Genossen und Weggefährten, die an Heroin gestorben sind, verloren haben. Es war ein Massaker: Von ’80 bis ’82 endeten viele, die glaubten, die Niederlage alleine verkraftet zu haben, und die nicht über den Werkzeugkasten verfügten, um diesen besonderen Tiefpunkt politisch verarbeiten, entweder im Heroin oder in der gewöhnlichen Kriminalität, indem sie von Straftaten lebten (wobei sie individuell Praktiken fortsetzten, die schon lange zuvor angewendet worden waren, aber aus politischen Gründen). Andere wiederum gingen nach Indien und wandten sich verschiedenen Religionen und Spiritualismen zu. Schließlich kehrten viele ins Privatleben zurück: Es gab die, die heirateten, die, die Kinder bekamen, die, die Arbeit fanden. Sie sind nicht auf die andere Seite übergelaufen, sie haben nicht mit dem Feind kollaboriert, sie haben sich einfach nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert.
L: Nachdem ich mit 17 Jahren, also ’77, von zu Hause weggegangen war, war es die kollektive Dimension, die mich aufnahm. Wie Valerio richtig sagte, war all das in den 1980er Jahren nicht mehr möglich, und man musste sich überlegen, wie man überleben konnte. Es war sehr schwierig, mit all diesen Dingen klarzukommen. Ich erinnere mich an meinen ersten Job. Nach dem meinem Schlussabschluss arbeitete ich 1980 Teilzeit als Büroangestellte. Ich brauchte das Geld, aber mein größtes Anliegen war, dass die Stundenzahl es mir erlaubte, zu Demonstrationen zu gehen: Das war mir wichtiger als das Geld. Wenn ich von Einsamkeit sprach, dann deshalb, weil ich eine Dimension gefunden hatte, die irgendwann nicht mehr da war. Man konnte nicht darauf spekulieren, sie durch ein “normales” Leben zu ersetzen, weil dieses einem nichts gegeben hat. Allerdings gab es bis Mitte der 1980er Jahre noch die ganze Arbeit zur Unterstützung von Genossen und Genossinnen, die auf der Flucht waren, aber das war nicht mehr wie früher, es war ein Vorgehen wie bei Geheimbünde und fand deshalb auf der Grundlage absolut persönlicher und individueller Beziehungen statt. Die Trennung zwischen deinem Wesen und dem, was um dich herum war, wurde immer deutlicher, immer größer, immer spürbarer als vorher, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich denke, dass selbst diejenigen, die noch am besten davongekommen waren und das hieß, dass sie keine größeren Prozesse am Hals hatten, die kurz gesagt Glück hatten, diese Trennung immer in sich rumtrugen. Ich spüre diese Trennung immer noch.
G: In Bologna war die explosionsartige Ausbreitung des Heroins grauenhaft. Die Bars, die Teil des oben beschriebenen Netzwerks waren, wurden schnell zu Orten des Drogenhandels.
Die Genossinnen und Genossen reagierten zunächst, indem sie die Dealer verprügelten. Das hat nicht funktioniert. Innerhalb weniger Monate wurden dieselben Leute, die vorher die Dealer angegriffen hatten, selbst zu Dealern. Dies liegt im Wesen dieser staatlichen Waffe begründet. Heroin ist ein Gift, das sich durch Kontakt ausbreitet: Man muss es nur injizieren.
Die Genossen waren nur in der Lage, dieses Phänomen durch die Besetzungsbewegung und die sozialen Zentren einzudämmen, die eine Reihe von Genossen, vielleicht auf eine sektiererische Weise, vom Ende der 1970er bis in die 1990er Jahre hinüberrettete. Durch eine recht rigide Politik gegenüber harten Drogen gelang es ihr, eine Art Cordon sanitaire zu schaffen und einen Teil der Kraft der Bewegung zu reproduzieren und in die Gegenwart zu tragen. Diese Genossen müssen gewürdigt werden.
L: Damals war man sich nicht bewusst, dass Heroin eine tödliche Waffe ist. Und es gab auch kein AIDS, das erst 1983 aufkam, so dass es einfach als eine verzeihbare Sünde erschien. Deshalb hatte es auch eine unglaubliche Verbreitung.
G: Es gab auch eine Drogenideologie – Freaky – in der Bewegung.
L: Viele Genossinnen und Genossen wurden dank der militanten Philosophie gerettet, dass wir es nicht riskieren durften, uns dem Heroin zu nähern, weil wir sonst zu schwach und zu erpressbar geworden wären.
Im Übrigen bin ich ein experimentierfreudiger Mensch, aber wenn ich mich nicht an Heroin herangewagt habe, dann gerade wegen der Politik. Für mich war die Autonomie durchaus ein Schutz.
V: Ich war ein organisierter Militanter, ich hatte einen Lebensstil, der meinem Militanz entsprach. Es bedeutete, dass bestimmte Drogen nichts mit mir zu tun hatten. Es war etwas, das es zu bekämpfen galt, es war das Kapital, eines seiner Instrumente.
L: Nun, Joints schon. Und etwas LSD, dessen Einnahme jedoch als ein kollektiver Moment erlebt wurde.
V: Es gab kein Verbot. Heroin wurde jedoch als Staatsdroge interpretiert. Und als solche bekämpft. Ohne Möglichkeit der Schlichtung.
Erinnerungen an `77
G: Ich erinnere mich an den Abend des 11. März ’77. Als ich auf dem Verdi-Platz ankam, sah ich, dass er vollständig mit Glasscherben bedeckt war. Die Atmosphäre erinnerte mich an Filme über die mexikanische Revolution. Es war filmreif.
Am Nachmittag bewegte sich der Zug zum PCI-Hauptquartier in der Via Barberia: Das war das Ziel. Die Polizei griff an. Ich hatte in Bologna noch nie eine solchen Polizeiangriff gesehen. Tränengasgranaten auf Augenhöhe: An den Granitwänden der umliegenden Häuser sollten später noch die Spuren zu sehen sein.
L: Im Jahr ’77 war es üblich, mit Zitronen herumzulaufen: wie heute wurden sie gegen Tränengas eingesetzt. Ab dem 11. März herrschte in Bologna ein Bürgerkriegsszenario: Panzer standen bereit, Hubschrauber kreisten den ganzen Tag.
Wie immer, wenn wir uns zu einer Versammlung trafen, nahmen wir den Bus. Damals begann die Polizei jedoch, die Busse anzuhalten, wie in Südamerika. Wenn sie Zitronen fanden, hielten sie dich an: Sie betrachteten diese als unzulässige Waffe!
G: Die Polizei in Bologna wusste diese Dinge von dem PCI, der ihr Fotos und Akten über die Militanten übergab. Sie müssen ihnen gesagt haben, wie wir Zitronen verwenden.
L: Auf der Piazza Maggiore, die immer voller Menschen war, führte der “kreative Flügel” der Bewegung Aufführungen durch. Damals haben sie einen Bus mit Pappe nachgebaut, weil es lächerlich war, dass sie angehalten wurden!
V: Ich erinnere mich an die Demonstration am 12. Dezember in Rom. Ich gehörte zu der Gruppe der bolognesischen autonomia, die an dieser Demonstration teilnahm. Viele blieben in der Stadt. Wir nahmen den Zug gegen 9 Uhr morgens. Francesco Lorusso wurde gegen 10 Uhr getötet. Hunderte von uns saßen bereits im Zug und wir wussten nichts davon, bis wir in Rom ankamen. Als der Zug anhielt, zeigten uns die Genossen aus Rom die Zeitungen. Ich erinnere mich, als ich ausstieg, an die Zeitung „Paese Sera“, in der stand: “Ein Student in Bologna getötet”. Nachdem wir aus dem Zug ausgestiegen waren, riefen wir unsere Genossen in Bologna an. Wir beschlossen gemeinsam, in Rom zu bleiben: Wir mussten diese Demonstration abhalten. Die Genossinnen und Genossen der verschiedenen Organisationen setzten uns an die Spitze der Prozession zu Ehren von Francesco. Wir liefen durch die Straßen Roms und erreichten die Piazza del Gesù, wo sich der Hauptsitz der DC befand. Während wir als Demospitze den Platz erreichten, griffen die Genossen der Volsci das DC-Hauptquartier mit Molotowcocktails an. So ein Feuer habe ich noch nie gesehen. Ich weiß nicht, wie viele sie geworfen haben, aber es müssen eine Menge gewesen sein, denn der ganze Platz färbte sich rot… wie in einem Film von Spielberg! Wir waren beeindruckt. Eine derartigen Hagel an Molotowcocktails habe ich weder vorher noch nachher gesehen.
(Interview im März 2017, veröffentlicht in Qui e Ora)
[1] Politisches und Kulturelles Zentrum in Bologna, das 1974 entsteht (Anm. d. Ü.)
[2] Im italienischen Schulsystem gehen die Noten bis 10. Die Note 6 ist die niedrigste Note, mit der man noch besteht. (Anm. d. Ü.)
[3] Jugendorganisation der Kommunistischen Partei (Anm. d. Ü.)