Um die hier versammelten Texte etwas einzuordnen, findet sich im Folgenden eine kurzer geschichtlicher Abriss der sozialen Kämpfen und der linksradikalen Bewegung im Italien der 70er Jahre. Natürlich kann das, was folgt, die Geschichten und Ereignisse jener Zeit nicht umfassend darstellen. Es muss sich hier auf einige Schlaglichter, die wir als wichtig betrachten, beschränkt werden. Die Auswahl dieser Schlaglichter ist dabei natürlich selbst schon geprägt von einer bestimmten politischen Perspektive. Und doch soll die folgende Darstellung die Kämpfe und Debatten jener Zeit zumindest etwas erhellen. Es steht sich gleich die Frage des Anfangs: Weil aber die hier versammelten Texte allesamt aus den 70er Jahren stammen, sollen die Jahre davor knapper dargestellt werden.
In Italien gab es nach dem 2. Weltkrieg eine starke linke, ja im Grunde kommunistische Bewegung, die eine bedeutende Minderheit darstellte.[i] Die PCI entschied sich am Ende des zweiten Weltkriegs dagegen den Widerstand gegen den Faschismus in einen Aufstand gegen den Kapitalismus ausweiten, wie von vielen kommunistischen Partisan*innen erhofft worden war. Vielmehr unterstützte man die Errichtung einer bürgerlich-demokratischen Republik: Man beschränkte sich somit auf legale Kampfformen und gab den ökonomischen Aufschwung als Ziel aus, während man die ideologisch die Arbeit und die Produktivität ins Zentrum rückte. Dies führte zunächst zu einer relativen Befriedung der Arbeiter*innen-Kämpfe. In diesem Kontext entwickelte sich ab den 60er Jahre eine dissidente Theorie-Strömung, der Operaismus. Dieser ging, kurzgefasst, von den Arbeiter*innen aus, um den Kapitalismus und dessen Entwicklung zu bestimmen. Die Fabrik ist dabei einerseits wesentlich von Kommando und Gewalt geprägt, aber anderseits auch Ort des Widerstandes und des Kampfes. Dabei wurde auf die ständig stattfindende Revolte und Subversion der Arbeiter*innen in der Fabrik ein besonderes Augenmerk gelegt.
Bedingt durch den wirtschaftlichen Aufschwung und technologischer Neuerungen (wie der massiven Ausweitung der Fließbandarbeit) wuchs der Bedarf an günstiger Arbeitskraft. Dieser Bedarf wurde oft von ungelernten Arbeiter*innen aus dem italienischen Süden gestillt. Diese migrierten für die Arbeit in die Fabrikzentren in Mailand, Turin oder Porto Maghera im italienischen Norden und bewegten vielfach außerhalb des linken politischen Koordinatensystems von Partisanenwiderstand, kommunistischer Partei und Gewerkschaft. Mit Beginn der 60er Jahre nehmen die Kämpfe in den Fabriken immer stärker zu und bewegen sich oft außerhalb der traditionellen Regeln.
1968 ist schließlich das Jahr der weltweiten (antiautoritären) Revolte der Studierenden, in dessen Rahmen es auch in Italien zu zahllosen Besetzungen, riesigen Demonstrationen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt.[ii] Die Universität wurde dabei auch als kapitalistische Disziplinierungs- und Ausbildungsinstanz angesehen und der Student als zukünftiger Proletarier theoretisiert. Es werden dabei Kontakte zwischen der Studierenden- und der Arbeiter*innen-Bewegung geknüpft, erste Bündnisse geschlossen, die Verbindung der jeweiligen Kämpfe als Ziel ausgegeben und bisweilen auch verwirklicht.
Die immer weiter eskalierenden Kämpfe innerhalb der Fabrik gipfeln schließlich 1969, im sogenannten heißen Herbst („autunno caldo“) anlässlich der alle drei Jahre stattfindenden landesweiten Tarifverhandlungen. In den Fabriken entstehen Kollektive, Studiengruppen, die sogenannten einheitlichen Basiskommitees (comitati unitari di base), im Grunde erste unabhängige Basisgewerkschaften. Allerlei Kampfformen (die sich bereits im Laufe der 60er Jahre herausgebildet und entwickelt haben) werden angewendet: angekündigte und wilde Streiks, Sabotagen, subversive Taktiken wie die Verlangsamung des Arbeitstempos, Angriffe auf Streikbrecher, Manager und Schichtleiter – insbesondere deren Autos werden vor allem in den folgenden Jahren ein beliebtes Ziel sein – Demonstrationen inner- und außerhalb der Fabrik, Straßenschlachten.
Die Kämpfe erreichen dabei ein neues Eskalationsniveau und enden zunächst mit einem weitgehenden Erfolg der Arbeiter*innen in den Tarifverhandlungen. Diese Erfolge sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass den radikalen Teilen der Bewegung und einen nicht unbedeutenden Teil der Arbeiter*innen um mehr ging als bloß das: Das Ziel war die Abschaffung der Lohnarbeit überhaupt – deren gewaltvolle Charakter ändert sich schließlich auch durch einen höheren Lohn nicht. Diese Kämpfe mitsamt den benannten Organisierungen und Taktiken werden sich auch den folgenden Jahren fortsetzen.
Um die verschiedenen Kämpfen an den verschiedenen Orten und Fabriken zu verknüpfen, das Kampfniveau von 1969 zu halten, ja es vielleicht sogar auf eine neue Stufe zu heben, schien es um und nach 1969 vielen notwendig, die Kämpfe landesweit zu organisieren, in eine große Organisation zusammenzufassen. Es entstanden so zahlreiche außerparlamentarische Gruppen. Auf der Seite derer, die sich stärker den „autonomen“ Geist von 1969 verpflichtet sahen, sind Potere operaio, Lotta continua und das Collectivo politico-metropolitano (aus dem später die Brigate rosse hervorgehen sollten) zu nennen. Andere Gruppen wie Avanguardia operaia verfolgten eher traditionellere wie beispielsweise leninistische Organisierungsansätze und zielten schlussendlich darauf ab, eine (neue) kommunistische Partei zu etablieren. Angesichts der auf 1969 auch folgenden rechten Anschlägen und der Gefahr eines drohenden rechten Putsches sollten sich einige dieser Gruppen im Sinne einer antifaschistischen Volksfront wieder an den Parteikommunismus (und dessen Vorfeldorganisationen) annähern und sich mitunter von den Kämpfen in der Fabrik und Gesellschaft entfernen.
Die Kämpfe blieben nicht nur auf die Fabrik beschränkt: Schon um `68 war es nicht nur zu Auseinandersetzungen und Kämpfen an den Universitäten, sondern auch an den Schulen gekommen. 1969 war bereits allerorts die Rede von einer Vergesellschaftung der Kämpfe: Die Arbeiter*innen forderten den Aufschub der Miet-, Strom- und Wasserzahlungen oder verweigerten diese gleich ganz. 1970 gab Lotta continua den programmatischen Schlachtruf Titel “Prendiamoci la città!” (Nehmen wir uns die Stadt!) aus, in dem eine Ausweitung der Kämpfe um die Fabrik hinaus und die Verknüpfung der bestehenden Kämpfe in der Fabrik und der Gesellschaft avisiert wurde. Lotta continua sowie andere Gruppen führten in der Konsequenz Demonstrationen gegen hohe Preise z.B. an den Marktplätzen durch, besetzten Häuser oder forderten zur autoriduzione („Selbst-Reduzierung“) der Mietzahlungen sowie Wasser- und Stromzahlungen auf: Man reduziert eigenmächtig und kollektiv die Zahlungen oder zahlt diese gleich gar nicht (Dies sollte in den kommenden Jahren zu einer zentralen und bisweilen recht erfolgreichen Praxis werden) Gerade Lotta continua versuchte auch in den Arbeiter*innenviertel Kindergärten, Freizeitangebote oder kostenlose medizinische Hilfe zu organisieren. Lotta Continua bzw. das Collectivo politico-metropolitano starteten Kampagnen mit dem Titel „la casa si prende e l’affitto non si paga“ (Man nimmt sich das Haus und Miete zahlt man keine) und “il trasporto si prende l’abbonamento non si paga” (Man fährt mit den Öffis, aber das Ticket zahlt man nicht)
Diese Jahre waren freilich auch die Zeit einer starken feministischen Bewegung. Auch wenn diese einige wichtige Erfolge auf rechtlicher Ebene erzielen konnte (Gewinn des Referendum zur Scheidung 1974, Abschaffung des Abtreibungsverbots 1978), ging es dieser nicht um eine reine rechtliche Gleichstellung. Vielmehr ging es um einen Angriff auf eine patriarchale Gesellschaft überhaupt, um eine Reflexion und Veränderungen der Beziehungen zwischen Männern und Frauen in der Gesellschaft wie auch innerhalb der linksradikalen Bewegung. Dabei wurden bestehende Taktiken jener Zeit wie z.B. Besetzungen aufgegriffen. 1978 kam es nach der Legalisierung der Schwangerschaftsabbruch beispielhaft zur Besetzung des Policlinico in Rom, um überhaupt erst die Möglichkeit, dass solche stattfinden, zu garantieren, wodurch eine Zeit lang eine selbstverwaltete Abtreibungsklinik entstand.[iii] Daneben entwickelte die feministische Bewegung auch neue politische Praktiken wie die autocoscienza (Selbsterfahrung), in deren Rahmen es um eine Reflexion der eigenen, weiblichen Erfahrung und das Erkennen dieser als gemeinsame, als politische geht. Gleichzeitig befand sich die feministische Bewegung vielfach im Widerspruch zur restlichen Bewegung und trennte sich vielfach von dieser ab – nicht zuletzt auch deshalb, weil die autonomen Genossen die feministische Kritik oft nicht wohlwollend aufnahmen und es bisweilen sogar zu „autonomen“ Angriffen auf feministische Demos und Blöcke kam.
Ende März 1973 erreichten die Kämpfe in den Fabriken einen gewissen Höhepunkt: Zu einem Zeitpunkt, als die Verhandlungen über die erneuten Tarifverträge fast abgeschlossen waren, wurde Mirafiori – der riesige Fiat-Werkskomplex in Turin – von den Arbeiter*innen besetzt – ohne dass die Gewerkschaften oder die Gruppen wohl zur Organisierung dieser Besetzung beigetragen haben. Diese Besetzung scheint den Kulminationspunkt der Kämpfe in der Fabrik zu bilden. Er trieb die Ablehnung der Lohnarbeit und jeder vertraglichen Regelung darüber auf die Spitze, während er möglicherweise gleichzeitig die Begrenztheit der Kämpfe innerhalb der Fabrik aufzeigte.
Die Besetzung von Mirafiori war dabei vielleicht bereits das Werk einer neuen Gruppe von jungen widerständigen Arbeiter*innen: Diese kamen nicht mehr nur aus dem Süden, sondern auch aus den industriellen Zentren selbst und waren durch Erfahrungen der Revolten und Protesten an den Schulen und Universitäten geprägt. Die kapitalistische Restrukturierung und die ökonomische Krise, die 1973 begann und sich 1976 teilweise nochmals verschärfte, trug ebenfalls dazu bei: Immer mehr Menschen wurden entlassen, waren arbeitslos, befanden sich in der Lohnausgleichskasse oder waren in unsicheren Arbeitsverhältnissen beschäftigt (die sogenannten „non-garantiti“ – Nicht-Garantierte).
1973 wurde auch die sozialistische Regierung Allendes in Chile gestürzt[iv]: Das hatte auch Auswirkungen auf die italienische Linke: Gerade auch infolge dieses Putsches schlug die Kommunistische Partei den Weg des Historischen Kompromisses ein: Man versuchte sich der DC anzunähern und strebte eine Regierungsbeteiligung an, um so von den bürgerlichen Kräften akzeptiert zu werden. Dies führte zu einer immer größeren Distanz und immer schärferen Gegnerschaft der PCI zu der radikalen Linken.
Diese Konstellation führte zu einer Krise der außerparlamentarischen Gruppen. Diese wurden auch dafür kritisiert, dass sie nur für die Herausbildung einer neuen Schicht an (zwar revolutionären, aber trotzdem) Politiker*innen sorgen würden und gleichzeitig von der realen Beziehungen und dem eigenen Leben getrennt seien. Ebenso wurden sie einer feministischen Kritik unterzogen. Bereits 1973 lösten sich beispielsweise Potere operaio und Gruppo Gramsci (aus der die für die Bewegung zentrale Zeitschrift Rosso hervorgeht) auf und es entstanden zahlreiche lokale Initiativen, Kollektive und autonome Versammlungen. Andere Gruppen schlugen den Weg des Parlamentarismus ein, aber nachdem der PCI nicht wie erhofft die die Christdemokraten 1976 überholen konnte und auch das linksradikale Wahlbündnis bei dieser Wahl relativ erfolglos blieb, wird sich auch Lotta continua 1976 auflösen.[v]
Es wäre allerdings fatal, die Geschichte der linksradikalen Bewegung, der autonomia und nicht zuletzt der 77er-Bewegung bloß als eine Abfolge von theoretischen Ansätzen, politischen Organisierungsversuchen und ihren Scheitern sowie deren Beziehungen zu den sozialen Kämpfen zu erzählen: Vielmehr bedeuteten diese Jahre für viele – Aktivist*innen der (ehemaligen) Gruppen, junge Proletarier*innen usw. – eine Veränderung der Alltags in einem politischen Rahmen[vi]: Man zahlte keine Miete und Rechnungen mehr, man kaufte kein Ticket mehr, man klaute das Essen, lebte in besetzten Häusern. Das Leben als ein Vergnügen – so weit das unterm Kapital eben möglich ist. Insbesondere ab Mitte der 70er Jahre verbreitete sich eine solche Lebensweise immer weiter. Die Praktiken der Subversion und Verweigerung wurden somit aus der Fabrik auf die Gesellschaft überhaupt übertragen. Die Ablehnung der Arbeit und der Slogan „Vogliamo tutto e subito“ (Wir wollen alles – und zwar sofort) wurden so ein Stück weit tatsächlich im Hier und Jetzt umgesetzt.
In dieser Konstellation entstanden neue Formen der Koordination: Autonome Versammlungen in den Fabriken, Basiskomitees, soziale Zentren, ausgehend von Mailand die proletarischen Jugendzirkel, freie Radios…. Es entwickelte sich eine breite Bewegung zur autoriduzione und es entstanden Gruppen mit genau diesem Ziel, wie das Collettivo Jacquerie in Bologna. Diese zielte nun nicht mehr „bloß“ auf die Grundbedürfnisse: Man versucht ebenso – oft erfolgreich – zu Hunderten kostenlos ins Kino zu gehen oder in teuren Restaurants zu speisen.
Das heißt nun allerdings keineswegs, dass sich die Bewegung komplett aus der Fabrik zurückzog und nur noch Kämpfe außerhalb führte. Gewisse Spektren konzentrierten ihre Bemühungen weiterhin auf die Fabrik. (s.u.) Zudem wurde nun ein Fokus auf mittlere und kleinere Fabriken im Hinterland gerichtet und versucht die Besitzer durch Demonstrationen und „proletarische Streifen“ dazu zwingen, Überstunden und Schwarzarbeit zu unterlassen.
Nun kann man von der autonomia (operaia) als einem politischen Spektrum sprechen:
Auf der einen Seite gab die autonomia operaia organizzata, die trotz des Ende der Gruppen weiterhin auf gewisse übergreifende Organisierung und in der Tendenz auf eine gewisse Vereinheitlichung der Kämpfe zielte. Um beispielhaft ein paar Perspektiven daraus zu nennen: Das vielleicht wichtigste Organ aus diesem Teil der autonomia war wohl die Zeitschrift Rosso aus Mailand. Diese war recht aufmerksam gegenüber neuen Widerstandsformen und sozialen Figuren, auch und gerade jenseits der Fabrik. Die Volsci aus Rom waren noch traditioneller operaistischer und richteten ihr Augenmerk auf die Kämpfe in der Fabrik, aber führten solche auch im Dienstleistungssektor und Gesundheitsbereich. Senza tregua aus Mailand konzentrierte sich ebenfalls – gerade in Kritik des „kreativen“ Flügels und der Verlagerung der Kämpfe aus der Fabrik in die Gesellschaft – auf die Fabrik und setzte gleichzeitig zunehmend auf eine „militärische“ Eskalation der Kämpfe.
1975 tauchten in Rom andererseits die ersten indiani metropolitani (Stadtindianer) auf. Diese setzen auf Parodie und ironische Subversion. Schminke, Theateraufführungen, eine Umwandlung von Slogans und der bestehenden linken Sprache[vii] gehören zum Repertoire der Stadtindianer – und nicht nur dieser. Die Revolution hat der Fantasie freien Lauf zu lassen. Es geht auch um eine Verweigerung der politischen Botschaft, der bestehenden Vorgaben, wie politische Inhalte zu vermitteln seien, gegen die Ernsthaftigkeit und Härte des linksradikalen Aktivismus. Neben den Stadtindianern entstand der sogenannte kreative Flügel der Autonomie, dessen zentrale Zeitschrift die sich selbst als maodadaistische bezeichnete a/traverso aus Bologna war. Die Benennung dieses Flügels ist wohl zum Teil auch auf die Integrationstendenzen von Kapital und Saat zurückzuführen (Kreativität ist schließlich allemal leichter wieder einzufangen als Verweigerung und Militanz) Es ging nämlich nicht nur um Kreativität, sondern viel wichtiger um ein Aufbrechen bestehender politischer Formen, um eine Wendung gegen Einheit und zentrale Organisation, um eine Aufhebung der Differenz zwischen politischer Tätigkeit, Subjektivität und sozialer Sprache. Ziel war es einen neuen politischen Stil, der sich auf das Fest, die Hemmungslosigkeit und die Ausschweifungen stützte, zu schaffen. Um den organisierten Gruppen der autonomia, den Zeitschriften, den Radios usw. entwickelte sich die sogenannte autonomia diffusa (diffuse Autonomie) aus Personen, innerhalb und am Rande der Bewegung, die jene oben beschriebenen Alltagspraktiken anwendete.
1977 kam es schließlich erneut zu einer Eskalation der Kämpfe: die 77er-Bewegung. Anlass dafür war zunächst eine geplante Universitätsreform: Aus Protest dagegen kommt es im ganzen Land zu Besetzungen an den Universitäten. Auch an der römischen Universität sind einige Fakultäten besetzt. Am 01. Februar verletzen Faschisten bei einem Angriff auf die Besetzung zwei Menschen schwer. Bei einer Demonstration am nächsten Tag gegen die faschistischen Angriffe schießen die Bullen, zwei Genossen werden schwer verletzt. Auch Autonome schießen zurück. In der Folge kommt es zur Besetzung der gesamten Universität in Rom, sie wird für gut zwei Wochen zur befreiten Zone.
Am 17. Februar will der damalige Generalsekretär des CGIL[viii], Luciano Lama, eine Kundgebung in der besetzten Universität abhalten. Nachdem der massive Ordnungsdienst der Gewerkschaft und der PCI die kreativen Provokationen von Stadtindianern und anderen nicht länger dulden will und es zu Auseinandersetzungen kommt, wird Lama mitsamt Anhang schließlich aus der Universität vertrieben. Trotz aller konfliktbehafteten Beziehung zwischen Parteikommunismus und Bewegung ist es wohl der radikalste Bruch zwischen diesen. Am selben Tag wird die Besetzung der Universität geräumt.
Im ganzen Jahr 1977 kommt es immer wieder zur massiven Ausschreitungen, zu politischen Enteignungen, zu militanten Aktionen, zu einer Massenillegalität.
Am 11. März wird nach einer Störaktion gegen Comunione e Liberazione, einer katholischen Organisation, die eine Veranstaltung an der Universität von Bologna durchführen will, Francesco Lorusso von den Bullen erschossen. In der Folge kommt es in Bologna zu einen regelrechten Aufstand und massiven Auseinandersetzungen, die sich auch am nächsten Tag noch fortsetzen. In Rom findet am 12. März eine ohnehin geplante Demonstration statt, die sich nun gegen das staatliche Morden richtet. Über Hunderttausend Menschen kommen in Rom zusammen, während es auch ansonsten überall in Italien Demonstrationen gibt. Es kommt auch in Rom zu harten Auseinandersetzungen, es wird geschossen, zahllose Gebäude angegriffen und teilweise zerstört, Waffenläden geplündert. Es ist wohl der „militärische“ Höhepunkt der 77-Bewegung und doch ist es schwierig von einem Sieg zu sprechen. Auch innerhalb der Bewegung gibt es zahlreiche, die die militärische Eskalation kritisieren. Auf der anderen Seite setzt sofort eine brutale Repression ein: In Bologna kommt es bereits vom 11. auf den 12. März zu zahlreichen Hausdurchsuchen und Verhaftungen, Radio Alice wird am 12. März während des laufenden Betriebs gestürmt, am 13. März rollen schließlich die Panzer in Bologna, der Vorzeigestadt des PCI, ein. Überall kommt es in Italien in den folgenden Monaten zu Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Demonstrationsverboten. Jetzt treffen auch die autonomen Kugeln tödlich: Am 21. April wird ein Polizeischüler bei Auseinandersetzungen in Rom erschossen. Am 14. Mai wird während einer Demonstration in Mailand ein Bulle erschossen. Am 12. Mai wird Giorgiana Masi nach einer Demonstration der radikalen Partei anlässlich des Jahrestag des Referendums zum Scheidungsrecht von den Bullen ermordet.
Insbesondere aufgrund der zunehmender Repression findet in Bologna eine von französischen Intellektuellen initiiertes Tagung gegen die Repressionen statt. Von der Bewegung wird dies als Möglichkeit des Austausches und der Verständigung untereinander wahrgenommen. Zehntausende strömen nach Bologna, die ganze Stadt wurde zur einer Festbühne, die Geschäfte reduzierten aus Angst vor Plünderungen die Preise, es finden zahlreiche hitzig geführte Debatten statt. Mitunter wird diese Tagung als Höhe- aber auch Endpunkt der 77-Bewegung gedeutet, die langsame Auflösung der Bewegung danach auf eine mangelnde politische Perspektive zurückgeführt. Das scheint allerdings allzu sehr aus dem Blickwinkel jener Gruppen, die auf eine stärkere Vereinheitlichung der Bewegung abzielten, gedacht zu sein. Allerdings konnte sich auch die kreative Komponente in ihrer Ablehnung der einheitlichen Organisation und des Versuchs, die Macht zu übernehmen, wohl nicht durchsetzen.
Natürlich bedeutete die Tagung noch nicht das Ende der Bewegung und insbesondere der diffusen Autonomie, allerdings wurden angesichts der zunehmenden Repression die Verhältnisse immer schwieriger. Auf der anderen Seite begannen nun die klandestinen bewaffneten Organisationen bestimmender zu werden. Die (organisierte) Autonomie hatte immer die Strategie des bewaffneten Kampfes, wie er von den Brigate rosse propagandiert wurde, kritisiert: Es ginge um eine Militanz der Massen, die sich aus den Kämpfen ergibt und deren Spielraum erweitert, nicht um eine Militanz von Spezialisten, die als Avantgarde auftreten. Trotzdem traten ab 1977 immer mehr derartige Gruppen auf, die auch aus dem Spektrum der autonomia heraus entstanden. Alle Gruppen und Spektren der autonomia durchzog eine Spaltungslinie: Auf der eine Seiten standen die, die „Massenarbeit“, das öffentliche Agieren und Organisieren, nicht aufgeben wollten, auf der anderen Seite jene, die den bewaffneten Kampf, die Klandestinität als einzig mögliche Fortsetzung sahen. 1978 war das Jahr der Entführung von Aldo Moro durch die Brigate rosse, was vom verbliebenen Spektrum der autonomia mit Distanz betrachtet wurden. Der bewaffneten Kampf entwickelt eine Eigenlogik, dass nun tatsächlich jene Gruppen mit den meisten Waffen im Keller und der besten Logistik, am revolutionärsten scheinen, sodass sich nun viele, die aus der autonomia kamen, sich den großen Formationen, den Brigate rosse und Prima linea (die selbst aus der autonomia entstanden war) anschlossen.
Am 07. April 1979 folgte schließlich der Höhepunkt der Repression (durch zahlreiche Spezialgesetze insbesondere in Reaktion auf die Entführung Moros ermöglicht): Gemäß dem Theorems des Staatsanwaltschaft Calogero gäbe es eine große terroristische Organisation, die gesamte linksradikale Bewegung mitsamt den Brigate rosse usw. dirigiere. Demzufolge wurden zahlreiche wichtige Figuren der autonomia verhaftet. Ende der 70er Jahre waren Zehntausende von Menschen im Knast, viele andere untergetaucht oder ins Ausland geflüchtet, einige ermordet.
Die Zeit der autonomia ging 1980 mit Niederlagen innerhalb der Fabrik endgültig zu Ende: Nachdem bereits Ende 1979 ca. 60 Arbeiter*innen der FIAT, die der Sympathie mit dem Terrorismus beschuldigt wurden, entlassen wurden und man so versuchte sich der besonders widerständigen Teile der Arbeiter*innen zu entledigen, wurden 1980 Massenentlassungen und Überstellung von Zehntausenden Arbeiter*innen in die Lohnausgleichskasse angekündigt. Es kam wiederum zu großen Protesten inner- und außerhalb der Fabrik, allerdings waren diese nun nicht mehr erfolgreich: Der FIAT gelang es sich weitgehend durchzusetzen – auch unterstützt vom sogenannten Marsch der 40.000, einer großen Demonstration von Arbeiter*innen, die sich auf die Seite der FIAT stellen. Am Ende wurden über 20.000 Arbeiter*innen in die Lohnausgleichskasse überstellt, darunter insbesondere die politisch aktiven und besonders widerständigen Arbeiter*innen.
[i] Bei den ersten Wahlen 1946 nach dem 2. Weltkrieg erreichten PCI (die kommunistische Partei) und PSI (die sozialistische Partei) zusammengenommen knapp 40 % der Stimmen
[ii] Das Jahr 1968 ist zwar das gemeinhin so benannte Jahr der Studierendenbewegung, hat allerdings ebenfalls seinen Vorlauf. In Italien gab es beispielsweise bereits 1967 eine Besetzungsbewegung an den Universitäten.
[iii] Das italienische Abtreibungsgesetz, das bis heute besteht, sieht vor, dass Ärzt*innen sich aus Gewissensgründen weigern können, Abtreibungen durchzuführen, was gerade in der Anfangszeit, aber auch bis heute für Schwierigkeiten sorgt, zeitnah Abtreibungen durchführen zu können.
Mehr zu der selbstverwalteten Abtreibungsklinik im Policlinco lässt sich z.B. in Matthias Heigls Buch “Rom in Aufruhr”, S. 379 ff. nachlesen.
[iv] Der Sturz der Regierung Allendes war dabei keineswegs der einzige rechte Militärputsch zu dieser Zeit: Bereits 1967 war es zu einem rechten Militärputsch in Griechenland gekommen, was ebenfalls die linken Analysen und Strategien in Italien stark beeinflusste.
[v] Ein weitere Option für den sich in Auflösung befindlichen Gruppen-Aktivismus war seit 1970 der bewaffnete Kampf, der zur Mitte der 70er Jahre wesentlich von den brigate rosse vertreten wurde.
[vi] Ob das nun Politik oder vielleicht schon Anti-Politik ist, diese Entscheidung sei den Leser*innen überlassen.
[vii] Es wird beispielsweise ironisch mehr Arbeit und weniger Lohn gefordert oder statt falce e martello (Hammer und Sichel) felce e mirtillo (Farnkraut und Heidelbeere) gerufen – um nur zwei Beispiele zu nennen.
[viii] Die größte italienische Gewerkschaft, die der Kommunistischen Partei nahe war